- 25.10.2011, 13:46
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- Zuletzt editiert von PetrosiliusZ: 25.10.2011 13:50.
Die Gunst der Stunde nutzend, so viel wie die letzten Tage war hier ja selten los, versuche ich einfach ma einen neuen Thread, nämlich eine Serie zur Lyrik, ins Leben zu rufen.
Postet alles, was mit Lyrik zusammenhängt. Euer Lieblingsgedicht, eine Serie zu einem Dichter oder einer Epoche, ein Gedicht, dass ihr nicht "verstanden" habt und das zu diskutieren euch am Herzen liegt, Texte zur Poetologie, whatever.
Ich werde alle paar Tage eine handvoll Gedichte zu einem Lyriker posten, jedenfalls sofern wenigstens ein kleines Interesse besteht, und darauf achten die Serie möglichst vielfältig zu gestalten.
Vielleicht schaffen wir es ja gemeinsam, jemandem etwas Neues zu zeigen, dass ihm gefällt und vielleicht, vielleicht können wir ja sogar den ein oder anderen, der Lyrik für altbacken und scheisse hält, davon überzeugen, wie vielfältig und geil sie in Wirklichkeit ist.
Mein Plan war eigentlich etwas rattenfängerisch mit einem aktuellem, oder jedenfalls aktuellerem Lyriker anzufangen, um mich der "leichteren Verständlichkeit" anzubiedern, aber jetzt bin ich grade in der Uni und hab noch ne halbe Stunde bis es weiter geht und mir ist langweilig und ich hab den Benn dabei und weil der Benn eine Erstnennung durchaus verdient, geht es jetzt also mit ihm los.
Ich werde die Gedichte nicht kommentieren; sie sprechen für sich und für Benn und ich denke ich habe sie repräsentativ genug gewählt, so dass sie einen Eindruck seiner Befindlichkeit und seiner Entwicklung vermitteln.
Gottfried Benn, deutscher Arzt und Dichter
(* 2. Mai 1886 in Mansfeld, Brandenburg; † 7. Juli 1956 in Berlin)
"es gibt nur ein Begegnen: im Gedichte
die Dinge mystisch bannen durch das Wort. "
(Gedichte)
Kleine Aster (1912)
Ein ersoffener Bierfahrer wurde auf den Tisch gestemmt.
Irgendeiner hatte ihm eine dunkelhellila Aster
zwischen die Zähne geklemmt.
Als ich von der Brust aus
unter der Haut
mit einem langen Messer
Zunge und Gaumen herausschnitt,
muß ich sie angestoßen haben, denn sie glitt
in das nebenliegende Gehirn.
Ich packte sie ihm in die Brusthöhle
zwischen die Holzwolle,
als man zunähte.
Trinke dich satt in deiner Vase!
Ruhe sanft,
kleine Aster!
O, Nacht:- (1916)
O, Nacht! Ich nahm schon Kokain,
Und Blutverteilung ist im Gange.
Das Haar wird grau, die Jahre flieh’n,
Ich muss, ich muss im Ueberschwange
Noch einmal vorm Vergängnis blühn.
O, Nacht! Ich will ja nicht so viel,
Ein kleines Stück Zusammenballung,
Ein Abendnebel, eine Wallung,
Vom Raumverdrang, von Ichgefühl.
Tastkörperchen, Rotzellensaum
Ein Hin und Her, und mit Gerüchen;
Zerfetzt von Worte-Wolkenbrüchen-:
Zu tief im Hirn, zu schmal im Traum.
Die Steine flügeln an die Erde.
Nach kleinen Schatten schnappt der Fisch.
Nur tückisch durch das Ding-Gewerde
Taumelt der Schädel-Flederwisch.
O, Nacht! Ich mag dich kaum bemühn!
Ein kleines Stück nur, eine Spange
Von Ichgefühl – im Ueberschwange
Noch einmal vorm Vergängnis blühn!
O, Nacht, o leih mir Stirn und Haar,
Verfliess dich um das Tag-verblühte!
Sei, die mich aus der Nervenmythe
Zu Kelch und Krone heimgebar.
O, still! Ich spüre kleines Rammeln:
Es sternt mich an – Es ist kein Spott-:
Gesicht, ich: mich, einsamen Gott,
Sich gross um einen Donner sammeln.
Einsamer nie (1940)
Einsamer nie als im August:
Erfüllungsstunde - im Gelände
die roten und die goldenen Brände,
doch wo ist deiner Gärten Lust?
Die Seen hell, die Himmel weich,
die Äcker rein und glänzen leise,
doch wo sind Sieg und Siegsbeweise
aus dem von dir vertretenen Reich?
Wo alles sich durch Glück beweist
und tauscht den Blick und tauscht die Ringe
im Weingeruch, im Rausch der Dinge -:
dienst du dem Gegenglück, dem Geist
Nur zwei Dinge (1952)
Durch so viele Formen geschritten,
durch Ich und Wir und Du,
doch alles blieb erlitten
durch die ewige Frage: wozu?
Das ist eine Kinderfrage.
Dir wurde erst spät bewußt,
es gibt nur eines: ertrage
- ob Sinn, ob Sucht, ob Sage-
dein fernbestimmtes: Du mußt.
Ob Rosen, ob Schnee, ob Meere,
was alles erblühte, verblich,
es gibt nur zwei Dinge: die Leere
und das gezeichnete Ich.
Das sind doch Menschen (1954)
Das sind doch Menschen, denkt man,
wenn der Kellner an einen Tisch tritt,
einen unsichtbaren,
Stammtisch oder dergleichen in der Ecke,
das sind doch Zartfühlende, Genüßinge
sicher auch mit Empfindungen und Leid.
So allein bist du nicht
in deinem Wirrwarr, Unruhe, Zittern,
auch da wird Zweifel sein, Zaudern, Unsicherheit,
wenn auch in Geschäftsabschlüssen,
das Allgemein-Menschliche,
zwar in Wirtschaftsformen,
auch dort!
Unendlich ist der Gram der Herzen
und allgemein,
aber ob sie je geliebt haben
(außerhalb des Bettes)
brennend, verzehrt, wüstendurstig
nach einem Gaumenpfirsichsaft
aus fernem Mund,
untergehend, ertrinkend
in Unvereinbarkeit der Seelen -
das weiß man nicht, kann auch
den Kellner nicht fragen,
der an der Registrierkasse
das neue Helle eindrckt,
des Bons begierig,
um einen Durst zu löschen anderer Art,
doch auch von tiefer.
Menschen getroffen (um 55)
Ich habe Menschen getroffen, die,
wenn man sie nach ihrem Namen fragte,
schüchtern – als ob sie gar nicht beanspruchen könnten,
auch noch eine Benennung zu haben –
»Fräulein Christian« antworteten und dann:
»wie der Vorname«, sie wollten einem die Erfassung
erleichtern,
kein schwieriger Name wie »Popiol« oder
»Babendererde« –
»wie der Vorname« – bitte, belasten Sie Ihr
Erinnerungsvermögen nicht!
Ich habe Menschen getroffen, die
mit Eltern und vier Geschwistern in einer Stube
aufwuchsen, nachts, die Finger in den Ohren,
am Küchentisch lernten,
hochkamen, äußerlich schön und ladylike wie
Gräfinnen –
und innerlich sanft und fleißig wie Nausikaa,
die reine Stirn der Engel trugen.
Ich habe mich oft gefragt und keine Antwort gefunden,
woher das Sanfte und das Gute kommt,
weiß es auch heute nicht und muß nun gehen.
Postet alles, was mit Lyrik zusammenhängt. Euer Lieblingsgedicht, eine Serie zu einem Dichter oder einer Epoche, ein Gedicht, dass ihr nicht "verstanden" habt und das zu diskutieren euch am Herzen liegt, Texte zur Poetologie, whatever.
Ich werde alle paar Tage eine handvoll Gedichte zu einem Lyriker posten, jedenfalls sofern wenigstens ein kleines Interesse besteht, und darauf achten die Serie möglichst vielfältig zu gestalten.
Vielleicht schaffen wir es ja gemeinsam, jemandem etwas Neues zu zeigen, dass ihm gefällt und vielleicht, vielleicht können wir ja sogar den ein oder anderen, der Lyrik für altbacken und scheisse hält, davon überzeugen, wie vielfältig und geil sie in Wirklichkeit ist.
Mein Plan war eigentlich etwas rattenfängerisch mit einem aktuellem, oder jedenfalls aktuellerem Lyriker anzufangen, um mich der "leichteren Verständlichkeit" anzubiedern, aber jetzt bin ich grade in der Uni und hab noch ne halbe Stunde bis es weiter geht und mir ist langweilig und ich hab den Benn dabei und weil der Benn eine Erstnennung durchaus verdient, geht es jetzt also mit ihm los.
Ich werde die Gedichte nicht kommentieren; sie sprechen für sich und für Benn und ich denke ich habe sie repräsentativ genug gewählt, so dass sie einen Eindruck seiner Befindlichkeit und seiner Entwicklung vermitteln.
Gottfried Benn, deutscher Arzt und Dichter
(* 2. Mai 1886 in Mansfeld, Brandenburg; † 7. Juli 1956 in Berlin)
"es gibt nur ein Begegnen: im Gedichte
die Dinge mystisch bannen durch das Wort. "
(Gedichte)
Kleine Aster (1912)
Ein ersoffener Bierfahrer wurde auf den Tisch gestemmt.
Irgendeiner hatte ihm eine dunkelhellila Aster
zwischen die Zähne geklemmt.
Als ich von der Brust aus
unter der Haut
mit einem langen Messer
Zunge und Gaumen herausschnitt,
muß ich sie angestoßen haben, denn sie glitt
in das nebenliegende Gehirn.
Ich packte sie ihm in die Brusthöhle
zwischen die Holzwolle,
als man zunähte.
Trinke dich satt in deiner Vase!
Ruhe sanft,
kleine Aster!
O, Nacht:- (1916)
O, Nacht! Ich nahm schon Kokain,
Und Blutverteilung ist im Gange.
Das Haar wird grau, die Jahre flieh’n,
Ich muss, ich muss im Ueberschwange
Noch einmal vorm Vergängnis blühn.
O, Nacht! Ich will ja nicht so viel,
Ein kleines Stück Zusammenballung,
Ein Abendnebel, eine Wallung,
Vom Raumverdrang, von Ichgefühl.
Tastkörperchen, Rotzellensaum
Ein Hin und Her, und mit Gerüchen;
Zerfetzt von Worte-Wolkenbrüchen-:
Zu tief im Hirn, zu schmal im Traum.
Die Steine flügeln an die Erde.
Nach kleinen Schatten schnappt der Fisch.
Nur tückisch durch das Ding-Gewerde
Taumelt der Schädel-Flederwisch.
O, Nacht! Ich mag dich kaum bemühn!
Ein kleines Stück nur, eine Spange
Von Ichgefühl – im Ueberschwange
Noch einmal vorm Vergängnis blühn!
O, Nacht, o leih mir Stirn und Haar,
Verfliess dich um das Tag-verblühte!
Sei, die mich aus der Nervenmythe
Zu Kelch und Krone heimgebar.
O, still! Ich spüre kleines Rammeln:
Es sternt mich an – Es ist kein Spott-:
Gesicht, ich: mich, einsamen Gott,
Sich gross um einen Donner sammeln.
Einsamer nie (1940)
Einsamer nie als im August:
Erfüllungsstunde - im Gelände
die roten und die goldenen Brände,
doch wo ist deiner Gärten Lust?
Die Seen hell, die Himmel weich,
die Äcker rein und glänzen leise,
doch wo sind Sieg und Siegsbeweise
aus dem von dir vertretenen Reich?
Wo alles sich durch Glück beweist
und tauscht den Blick und tauscht die Ringe
im Weingeruch, im Rausch der Dinge -:
dienst du dem Gegenglück, dem Geist
Nur zwei Dinge (1952)
Durch so viele Formen geschritten,
durch Ich und Wir und Du,
doch alles blieb erlitten
durch die ewige Frage: wozu?
Das ist eine Kinderfrage.
Dir wurde erst spät bewußt,
es gibt nur eines: ertrage
- ob Sinn, ob Sucht, ob Sage-
dein fernbestimmtes: Du mußt.
Ob Rosen, ob Schnee, ob Meere,
was alles erblühte, verblich,
es gibt nur zwei Dinge: die Leere
und das gezeichnete Ich.
Das sind doch Menschen (1954)
Das sind doch Menschen, denkt man,
wenn der Kellner an einen Tisch tritt,
einen unsichtbaren,
Stammtisch oder dergleichen in der Ecke,
das sind doch Zartfühlende, Genüßinge
sicher auch mit Empfindungen und Leid.
So allein bist du nicht
in deinem Wirrwarr, Unruhe, Zittern,
auch da wird Zweifel sein, Zaudern, Unsicherheit,
wenn auch in Geschäftsabschlüssen,
das Allgemein-Menschliche,
zwar in Wirtschaftsformen,
auch dort!
Unendlich ist der Gram der Herzen
und allgemein,
aber ob sie je geliebt haben
(außerhalb des Bettes)
brennend, verzehrt, wüstendurstig
nach einem Gaumenpfirsichsaft
aus fernem Mund,
untergehend, ertrinkend
in Unvereinbarkeit der Seelen -
das weiß man nicht, kann auch
den Kellner nicht fragen,
der an der Registrierkasse
das neue Helle eindrckt,
des Bons begierig,
um einen Durst zu löschen anderer Art,
doch auch von tiefer.
Menschen getroffen (um 55)
Ich habe Menschen getroffen, die,
wenn man sie nach ihrem Namen fragte,
schüchtern – als ob sie gar nicht beanspruchen könnten,
auch noch eine Benennung zu haben –
»Fräulein Christian« antworteten und dann:
»wie der Vorname«, sie wollten einem die Erfassung
erleichtern,
kein schwieriger Name wie »Popiol« oder
»Babendererde« –
»wie der Vorname« – bitte, belasten Sie Ihr
Erinnerungsvermögen nicht!
Ich habe Menschen getroffen, die
mit Eltern und vier Geschwistern in einer Stube
aufwuchsen, nachts, die Finger in den Ohren,
am Küchentisch lernten,
hochkamen, äußerlich schön und ladylike wie
Gräfinnen –
und innerlich sanft und fleißig wie Nausikaa,
die reine Stirn der Engel trugen.
Ich habe mich oft gefragt und keine Antwort gefunden,
woher das Sanfte und das Gute kommt,
weiß es auch heute nicht und muß nun gehen.